Zu der seit Ausbruch der Pandemie viel diskutierten Frage der Anwendbarkeit des § 1104 ABGB auf Bestandverhältnisse über Geschäftsräumlichkeiten, die von behördlichen Maßnahmen im Zuge der COVID-19-Pandemie betroffen sind, liegen inzwischen die ersten Gerichtsentscheidungen vor, aus welchen sich vereinzelt Klarstellungen zum Anwendungsbereich und zu den Rechtsfolgen des § 1104 ABGB ergeben.
§ 1104 ABGB besagt, dass wenn die in Bestand genommene Sache wegen außerordentlicher Zufälle wie Feuer, Krieg oder Seuche, großer Überschwemmungen, Wetterschläge, oder wegen gänzlichen Misswachses gar nicht gebraucht oder benutzt werden kann, der Bestandgeber nicht zur Wiederherstellung und der Bestandnehmer nicht zur Entrichtung von Miet- oder Pachtzins verpflichtet ist.
Während § 1096 Abs 1 Satz 2 ABGB bloß „gewöhnliche Zufälle“ erfasst, werden die Rechtsfolgen der „außergewöhnlichen Zufälle“ in § 1104 ABGB geregelt; beide Anwendungsfälle sind aber im Ergebnis ident: Die Preisgefahr trägt der Bestandgeber. Der maßgebliche Unterschied zwischen § 1096 ABGB und den §§ 1104 f ABGB besteht darin, dass der Bestandgeber bei „außergewöhnlichen Zufällen“ in der Regel nicht zur Wiederherstellung verpflichtet ist. Der Bestandgeber trägt damit zwar weiter die Preisgefahr, von der Leistungsgefahr wird er aber befreit.
„Außerordentliche Zufälle“ im Sinn des § 1104 ABGB sind elementare Ereignisse, die von Menschen nicht beherrschbar sind, sodass für deren Folgen im Allgemeinen von niemandem Ersatz erwartet werden kann; diese Elementarereignisse treffen stets einen größeren Personenkreis auf eine Weise, die durch eine gesetzliche Regelung über Ersatzansprüche nicht ausgeglichen werden kann.
Zu den in § 1104 ABGB ausdrücklich genannten Elementarereignissen zählt auch die „Seuche“. Unter einer Seuche versteht man eine Infektionskrankheit, die infolge ihrer großen Verbreitung und der Schwere des Verlaufs eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. Diese Definition trifft nach den inzwischen vorliegenden Gerichtsentscheidungen auch auf COVID-19 zu, weshalb eine dadurch verursachte Beeinträchtigung des Gebrauchs oder der Nutzbarkeit eines Bestandgegenstandes grundsätzlich in den Anwendungsbereich des § 1104 ABGB fällt.
Weiters ergibt sich aus der vorliegenden Judikatur, dass die Gebrauchsbeeinträchtigung nicht unmittelbar aus der Pandemie selbst resultieren muss, um sie dem Anwendungsbereich des § 1104 ABGB zuzuordnen. Vielmehr seien auch die legistischen Maßnahmen, welche die Nutzungsmöglichkeit des Bestandobjekts beseitigen oder beschränken (z.B. behördliche Betretungsverbote), als Folge der Pandemie § 1104 ABGB zu unterstellen; entscheidend sei, ob die Gebrauchsmöglichkeit objektiv, gemessen am Vertragszweck, beseitigt oder eingeschränkt ist.
Aus einer Einzelfallentscheidung des Obersten Gerichtshofes (im Fall eines Sonnenstudios) ergibt sich zu § 1104 ABGB überdies, dass ein Bestandnehmer zur Mietzins- oder Pachtzinszahlung nicht verpflichtet ist, wenn das Bestandobjekt aufgrund eines uneingeschränkten behördlichen Betretungsverbotes hinsichtlich des Kundenbereichs weder für den sonst üblichen Betrieb (hier des Sonnenstudios) noch zu Nebentätigkeiten (wie den Verkauf von Getränken) noch für die Einlagerung von Gegenständen genutzt werden kann.
Auch mit möglichen Auswirkungen von staatlichen Förderungen im Zusammenhang mit COVID-19 (z.B. dem Fixkostenzuschuss oder Zahlungen aus dem Härtefallfonds) auf die Anwendung des § 1104 ABGB hat sich die Rechtsprechung schon auseinandergesetzt; dies zumal von Bestandgeberseite häufig argumentiert wird, dass der Bestandnehmer – gleichsam als Ausfluss einer Schadensminderungspflicht – verpflichtet sei, staatliche Förderungen in Anspruch zu nehmen und diese im Ausmaß des geschuldeten Mietzinses an den Bestandgeber weiterzuleiten.
Das Landesgericht für ZRS Wien vertrat in diesem Zusammenhang den Standpunkt, dass Geschäftsraummietzinse und Pachtzinse z.B. als Fixkosten im Sinne des Fixkostenzuschusses anerkannt werden, ein Unternehmer als Bestandnehmer jedoch zur Schadenminderung gegenüber dem Förderungsgeber verpflichtet sei und sich daher beispielsweise aktiv um eine Reduktion des Mietzinses oder eine Aussetzung der Mietzinszahlungsverpflichtung bemühen müsse. Dieser Schadenminderungspflicht würde ein Bestandnehmer schon entsprechen, indem dieser vom Bestandgeber die Rückzahlung aus seiner Sicht zu viel bezahlter Mietzinse begehrt.
Ungeachtet der schon vorliegenden Rechtsprechung sind bisher noch viele Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Anwendung und dem Wirkungsbereich der §§ 1104 f ABGB – insbesondere was im Falle einer zumindest teilweisen Nutzbarkeit des Bestandobjektes gelten soll – ungeklärt. Hinzu tritt, dass die Anwendung des § 1104 ABGB dispositiv ist, weshalb diese auch zur Gänze oder teilweise, ausdrücklich oder schlüssig abbedungen werden kann. Die Beurteilung der Frage, ob und inwieweit § 1104 ABGB auf ein Bestandverhältnis anwendbar ist und welche Auswirkungen die Anwendbarkeit auf das jeweilige Bestandverhältnis hat, ist daher ganz wesentlich von der Wertung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls abhängig.
Es ist daher zu erwarten, dass die Gerichte mit den Nachwirkungen der Pandemie, insbesondere mit den damit einhergehenden Beschränkungen der Nutzbarkeit eines Bestandobjektes sowie den daraus abgeleiteten Bestandzinsminderungsansprüchen wohl noch länger beschäftigt sein werden und sich eine vom jeweiligen Einzelfall abhängige, kasuistische Judikatur zu §§ 1104 f ABGB entwickeln wird. Eine harte Prognose, wie sich die Rechtsprechung zu den einzelnen Rechtsfragen entwickeln wird, ist derzeit noch nicht möglich.