Dieser Beitrag behandelt die Frage, ob und in welchem Ausmaß Bieter tatsächlich vorvertragliche Pflichten in Zusammenhang mit der Prüfung von Ausschreibungen in der Angebotsphase treffen, insbesondere im Hinblick auf die Richtigkeit und Vollständigkeit der Leistungsbeschreibung.
Oft weisen Auftraggeber nach Auftragserteilung Mehrkostenforderungen der Bieter für nicht im Vertrag angeführte Leistungen, die sich aus der Unvollständigkeit oder Unrichtigkeit der vom Auftraggeber erstellten Ausschreibung ergeben, mit dem Argument zurück, der Bieter und spätere Auftragnehmer hätte auf diese Fehler der Ausschreibung bereits in der Angebotsphase hinzuweisen und die fehlenden Leistungen daher in der Kalkulation zu berücksichtigen gehabt. Ist dieser Einwand berechtigt?
Rechtsgrundlagen
Die Rechtsgrundlagen zur vorvertraglichen Prüf- und Warnpflicht sind spärlich. Die vertragliche Prüf- und Warnpflicht nach § 1168a ABGB bzw Pkt 6.2.4. der ÖNORM B 2110 greift in vollem Maße erst nach Vertragsabschluss, sie ist aber Ausfluss der Interessenwahrungspflicht des Werkunternehmers, weshalb sie nach ständiger Rechtsprechung auch schon in contrahendo – vor Vertragsabschluss – bestehen kann[1].
Der Oberste Gerichtshof hat das Bestehen vorvertraglicher Warnpflichten wiederholt bejaht: Der Bieter hat zu warnen, wenn das Werk aufgrund von technischen Unklarheiten oder Widersprüchen in den Ausschreibungsunterlagen misslingen könnte[2]. Die Bejahung einer aus genereller Aufklärungspflicht ableitbaren Warnpflicht sagt aber noch nichts über das Bestehen von vorvertraglichen Prüfpflichten aus. Eine Pflicht zur detaillierten Prüfung, ob die Ausschreibungsunterlagen unklar, widersprüchlich, falsch oder lückenhaft sind, besteht nicht. Dafür spricht auch der Informations- und Beherrschbarkeitsvorsprung des Auftraggebers, der die Ausschreibungsunterlage erstellt hat.
Der Auftragnehmer ist daher nicht verpflichtet, die vom Auftraggeber übergebenen Unterlagen vor Vertragsabschluss im Detail auf Fehler zu überprüfen. Insbesondere, wenn für die Anbotslegung kein Entgelt erwartet werden kann, besteht kein Grund für den Bieter die Arbeit des Auftraggebers, nämlich Ausschreibungsunterlagen sorgfältig zu erstellen, zu übernehmen. Dabei gilt: je qualifizierter der Auftraggeber und der Bieter, desto geringer auch die wechselseitigen Aufklärungspflichten.
Der Auftraggeber, der sich oft schon lange mit einem Projekt befasst, schuldet die Verfassung einer vollständigen und richtigen Leistungsbeschreibung. Er trägt das Risiko der Vollständigkeit und Richtigkeit seiner Ausschreibungsunterlagen. Gemäß § 96 BVergG 2006 haben auch Auftraggeber bzw die ausschreibende Stelle besondere Sorgfaltspflichten: Sie haben bei der Erstellung der Leistungsbeschreibung zwingend die notwendige Fachkunde aufzuweisen bzw sich eines Sachverständigen zu bedienen[3]. Das Leistungsverzeichnis ist so auszuarbeiten, dass die Vergleichbarkeit der Angebote sichergestellt ist und die Preise ohne die Übernahme nicht kalkulierbarer Risiken und ohne umfangreiche Vorarbeiten ermittelt werden können[4].
Erweiterung der vorvertraglichen Haftung in der Ausschreibung
Entgegen diesen gesetzlichen Vorgaben sehen Ausschreibungsbedingungen in aller Regel eine Erweiterung der vorvertraglichen Pflichten vor. Beispielhaft kann folgende Bestimmung angeführt werden:
„Die vom Auftraggeber zur Verfügung gestellte, nachvollziehbare Mengenermittlung wurde unter Anwendung pflichtgemäßer Sorgfalt vom Auftragnehmer hinsichtlich der im Leistungsverzeichnis abgegebenen Mengen überprüft und deren Übereinstimmung mit den Plänen festgestellt.“
Diese Bestimmung verpflichtet den Bieter zu einer höheren Sorgfalt. Diese Aufklärungspflicht darf jedoch nicht überspannt werden und ist insbesondere im Hinblick auf die in der Regel kurze Angebotsphase erheblich eingeschränkt. Besonders schwierige (umfangreiche, technisch schwierige oder kostenintensive) Untersuchungen müssen vom Bieter nicht durchgeführt werden. Auch der Oberste Gerichtshof hat wiederholt festgehalten, dass Aufklärungs- und Prüfpflichten nicht überspannt werden dürfen und nur im Rahmen der eigenen Leistungspflicht bestehen dürfen[5].
Die geschuldete Sorgfalt bei Erfüllung dieser Pflichten ist stets im Verhältnis zu den für das konkrete Vorhaben zu erwartenden durchschnittlichen Fähigkeiten des Bieters zu bewerten. Daher ist immer eine Durchschnittsbetrachtung des sorgfältigen Bieters zu ermitteln. Die im Zuge einer verkehrsüblichen Kalkulation vom Bieter durchgeführte Prüfung der Leistungsbeschreibung zur Bewertung des Bau-Solls und der Leistungsansätze ist im Regelfall ausreichend, um der vorvertraglichen Warnpflicht zu entsprechen. Je komplexer ein Projekt, desto höher sind die Anforderungen an die Fähigkeiten des Bieters bei der Angebotserstellung.
Haftung aus culpa in contrahendo
Der Bieter beschränkt sich in der Angebotsphase im Wesentlichen auf die Preisfindung, also auf die Kalkulation. Jede allenfalls bestehende Prüfpflicht des Bieters ist daher kalkulationsbezogen zu interpretieren[6]. Nur soweit der Bieter im Rahmen der Kalkulation Fehler erkennen kann, ist er unbeschränkt verpflichtet, den Auftraggeber darauf hinzuweisen. Wenn der Bieter also Fehler in der Ausschreibung erkennt, hat er den Auftraggeber darauf hinzuweisen, andernfalls er seine Ansprüche auf Abgeltung der Mehrkosten verliert, die sich im Zuge der Projektabwicklung aufgrund dieses Fehlers ergeben. Dies gilt aber nur, wenn der Bieter vorsätzlich auf erkannte Fehler nicht hinweist[7]. Verletzt der Bieter fahrlässig allenfalls bestehende Prüf- und Warnpflichten, haftet er zwar für den entstandenen Schaden; dennoch muss sich der Auftraggeber hinsichtlich des allenfalls eingetretenen Schadens den Mitverschuldenseinwand (wegen der sorgfaltswidrigen Erstellung der Ausschreibungsunterlagen) gefallen und die Sowiesokosten von einem allenfalls entstandenen Schaden abziehen lassen.
Fazit
Den Auftragnehmer treffen in der Angebotsphase keine umfassenden Prüf- und Warnpflichten analog zur vertraglichen Prüf- und Warnpflicht gemäß § 1168a ABGB bzw Pkt 6.2.4. der ÖNORM B 2110. Allerdings muss er auch in dieser Phase auf Fehler in der Ausschreibung hinweisen, die ihm im Zuge der Kalkulation tatsächlich auffallen. Die Verletzung dieser vorvertraglichen Warnpflicht, die sich aus einer allgemeinen Aufklärungs- und Hinweispflicht zwischen potentiellen Vertragpartner ableiten lässt, führt zu einem Verlust vom Werklohnanspruch für daraus resultierende Zusatzleistungen. Darüber hinaus muss der Bieter für daraus resultierende Schäden bei der Werksherstellung einstehen. Beruft sich der Auftraggeber auf die Verletzung vorvertraglicher Warnpflichten, muss er nachweisen, dass der Bieter einen Fehler in der Ausschreibung erkannt und vorsätzlich nicht darauf hingewiesen hat. Eine umfassende Prüfpflicht des Bieters besteht in der vorvertraglichen Angebotsphase nicht.
Quellen:
[1]OGH 15.2.1990 8 Ob 579/90, JBl 1990, 656 (Dullinger) = ecolex 1990, 409; 26.1.1995, 8 Ob 1587/94; 10.5.1994, 4 Ob 539/94, ecolex 1994, 675; 11.5.1993, 1 Ob 550/93, JBl 1994, 174 (M. Gruber) = ecolex 1993, 518 (Wilhelm); 29.1.1992, 1 Ob 628/91, ecolex1992, 316 (Wilhelm) = JBl 1992, 784 uva.
[2]Müllerin Müller/Stempkowski Handbuch Claim-Management, 88; Müller, Vorvertragliche Pflichten FS ÖGEBAU 261 (268).
[3]Pachner/ Gruberin Schramm/Aicher/Fruhmann/Thienel, § 96 Rz 24.
[4]Kall in Müller/Stempkowski Handbuch Claim-Management, 199.
[5]OGH 4 Ob 539/94.
[6]Müllerin Müller/Stempkowski Handbuch Claim-Management, 89 FN 199.
[7]OGH 13.9.2006, 3 Ob 122/05w, RS0016291